Briefkopf

Addison d. 4. Jan.[1878]
Gottes Gnade sei mit Euch!
Liebe Tante und Cousinen!
Schon lange habe ich es für meine Pflicht angesehen, an Euch zu schreiben. Im vorigen Sommer hatte ich schon einen Brief an Euch fertig; aber die Nachlässigkeit, die den Menschen anklebt, hat auch mich abgehalten, ihn abzuschicken. Da ich nun eine gute Gelegenheit habe, so will ich versuchen, daß schon lange Versäumte, so viel als möchlich, nachzuholen und Euch mit einem Briefe zu erfreuen.

Wie Ihr wohl schon längst wißen werdet, so bin ich jetzt in einem Seminar und studire. Das kommt Euch vielleicht töricht vor. Es ist ja freilich wahr, daß ich schon reichlig alt bin zum Studiren. Mit Gottes Hülfe hoffe ich jedoch mein Ziel zu erreichen und die nöthige Geschicklichkeit, die von einem tüchtigen Schullehrer verlangt wird, mir anzueignen.

Nun werdet Ihr wahrscheinlich fragen, wie bist Du dazu gekommen? Diese Frage will ich kurz beantworten. Hier in Amerika steht es mit den Religionsangelegenheiten ganz anders als in Deutschland. Wir haben hier kein Kirchen-Konsistorium, das für Kirche und Schule Sorge trägt. Dieses ist aber für uns amerikanischen Lutheraner durchaus kein Nachtheil, sondern im Gegentheil, ein bedeutender Vortheil. Die treuen Lutheraner verbinden sich hier zu einer Synode und sorgen so gemeinschaftlich für das Wohl der streitenden Kirche Christi. Nun ist also ihre erste Aufgabe für Lehranstalten zu sorgen, um Lehrer und Prediger auszubilden. Denn, wenn die Lutheraner, die von Deutschland herüber kommen, keine Lehrer und Prediger hier im Lande bekommen, so fallen sie gar bald wieder ins Heidenthum zurück. Nun ist doch zwischen einem Heiden und einen Christen ein himmelweiter Unterschied. Wenn ein Heide stirbt, so hat er keinen Trost und erwartet nur die ewige Verdammniß. Wir Christen sind aber eines Besseren belehrt, durch Gottes Gnade wißen wir, daß alle, die Jesum Christum als ihren Heiland im wahren Glauben annehmen nicht verdammt, sondern ewig selig werden, wen sie sterben. Da es nun einmal nur einen Weg gibt, selig zu werden, so habe ich so einigermaßen erkannt, wie traurig es um so viele Menschen steht. Um diesem Übel abzuhelfen, habe ich mit Gottes Hülfe das Studium ergriffen. Will man sich dem Dienste Christi weihen, so muß man keine Rücksicht nehmen auf Geld und Gut oder auf das Zureden der Angehörigen, sondern man muß sich nur einzig und allein an das Wort Gottes halten. Man muß das Wort Jesu vorhalten: Wer nicht verläßt um meinetwillen, alles was er hat, der ist mein nicht werth. Wenn ein Mensch so recht erkannt hat, wozu die Menschen eigentlich hier auf Erden leben, so kommt ihm vieles, was ihm vorher närrisch zu sein scheint, ganz vernünftig vor. Mir liegt an nichts mehr, als an meiner wie auch an Eurer Seligkeit. Um selig zu werden, dazu leben wir auf Erden und nicht um unsere Lust in allerlei Sünden zu pflegen.

Unsere Synode, oder der Verband aus Gemeinden und Pastoren bestehend, hat über 700 Pastoren, mehr als 500 Schullehrer und wohl über 1000 Gemeinden. Dieser Verband hat 4 große Lehranstalten. Die erste, im Staate Indiana (2500 Schüler) ist eine (hauptsächlich) für die Vorbereitung zum Predigerseminar geeignete. Die 2. in St. Louis, Mo., (1000 Schüler), für weitere Ausbildung der Prediger-Studenten. Die 3. in unserem Staate Illinois (900 Schüler), auch für Prediger. Diese Anstalt ist ungefähr 40 englische Meilen von meinen Eltern, oder von meiner neuen Heimath entfernt. Die 4. ist die, wo ich jetzt bin. Sie ist ebenfalls in Illinois, ungefähr 250 englische Meilen von meiner Heimath. Hier in unserer Anstalt, oder in unserem Schullehrer Seminar gefinden sich 120 Schüler, die sich alle auf das Schulamt vorbereiten. Es sind an dieser Anstalt 5 Professoren angestellt. Wir lernen hier vornehmlich Religion, dann noch Schreiben, Rechnen, Geographie, Deutsche Sprachlehre, Singen, Orgel und Violinenspielen, Naturkunde, Physik, Zeichnen und d. gl. Diese Fächer werden auch in der englischen Sprache gelehrt. Ich muß hier jährlich 45 Dollar Kostgeld bezahlen. Für den Unterricht bezahlt die Synode. Das Kostgeld würde auch viel mehr sein, wenn nicht die einzelnen Gemeinden allerlei Frucht u. Getreide unserer Küche schenken würden.

Einige Gemeinden unserer Synode sind noch sehr klein. Wo in einer Gegend viele Katholiken, oder andere Secten wohnen, oder, wo die Gegend erst spärlich bewohnt ist, da bleiben die lutherischen Gemeinden nur klein. Hingegen, wo die Gegend dicht von Lutheranern bewohnt ist, werden die Gemeinden groß. Die Gemeinde, in welcher meine Eltern und Brüder sind, ist noch im Wachsen. Diese, in welcher unser Seminar sich befindet, ist ziemlich groß. Sie hat 3 Schulen mit 4 Lehrern und einen Prediger mit einem Hülfsprediger und eine schöne Kirche. Unser eigentlicher Prediger ist gestern Abend gestorben, deshalb haben wir jetzt keine Unterrichtsstunden. Er war der Bruder des Pastors Franke, der früher Pastor zu Arenshorst war. Unsere Prediger haben es nicht so bequem, wie die Eurigen. Sie wachen besser über ihre anvertraute Gemeinde und opfern ihr Leben auf für sie. Sie sind sich wohl bewußt, daß eine jede Seele, die ihnen hier anvertraut war, am jüngsten Gericht von ihrer Hand gefordert wird.

Meine Eltern haben in diesem Jahr eine reiche Ernte gehabt. Die Frucht ist jedoch jetzt überall billig. Sie werden alles bezahlen können, was sie für dieses Jahr zu bezahlen haben. Wenn sie auch nichts übrig hätten, so leben sie hier doch nicht so knechtisch wie da, sondern sie sind ihr eigener Herr. Auch essen und trinken sie hier viel besser wie da. Dies Jahr haben sie 10 - 12 gute (jedes von 2-300 Pfund wiegend) Schweine geschlachtet. Wir sind alle froh, daß wir hier sind und danken Gott, daß er uns hierher gebracht und bis soweit väterlich versorget hat.

Ihr könnt mich mit Wiederschreiben sehr erfreuen. Ich denke einer von Euch wird mir die Freude machen und schreiben. Es wäre doch zu schlecht, wenn sich so nahe Verwandte einander vergäßen. Wenn Ihr irgend etwas wissen wollt von Amerika, so lasset es mir wissen. Mit herzlichen Gruß an Euch alle schließ Euer treuer Freund

W. Helmkamp
Brieffuü

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